Ein roter Schal flattert um die Ecke. Klick. Klack. Absätze hallen den langen Korridor entlang. Aufholen! Der Schal weht nun wieder in Sichtweite. Aber schon wieder: Während ich drei Schritte mache, macht sie locker fünf. Zack. Der rote Schal ist mir schon wieder aus den Augen gewichen. Ich hole auf, wenn auch langsam. Triathlon und Halbmarathon sind nichts gegen die Geschwindigkeit meiner Abgeordneten im Deutschen Bundestag.
In der Tat, einer meiner ersten Eindrücke des zu kurzen – aber immerhin vierwöchigen – Praktikums im Bundestagsbüro von Claudia Lücking-Michel war ganz einfach geprägt durch die Energie und Schnelligkeit, mit der sie Termine und Aufgaben antritt. Zugegebenermaßen begann meine erste Woche mit einer Ballung an Terminen, die vielleicht nicht repräsentativ für jede Sitzungswoche in Berlin ist, aber sicherlich auch nicht ungewöhnlich.
Nach einer ausführlichen Bürorücksprache gemeinsam mit den Mitarbeitern des Wahlkreises in Bonn kann die Woche in Berlin beginnen. Im Mittelpunkt der Sitzungswoche stehen meist der Donnerstag und der Freitag mit jenen Debatten, die gewissermaßen zur „PrimeTime“ des Plenums angesetzt sind. Meist sind es auch diese Themen, die von der medialen Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommen und journalistisch verwertet werden. Der Schwerpunkt der alltäglichen Arbeit im Haus liegt indes jedoch nicht nur auf der Bearbeitung brandaktueller Probleme, sondern auf der kontinuierlichen Vorbereitung der AG- und Ausschussarbeit, obgleich diese natürlich immer von aktuellen Bewegungen des innerdeutschen, europäischen oder weltlichen Geschehens beeinflusst werden.
Der Montag einer Sitzungswoche stellt zunächst die Möglichkeit dar, Zeit für neuen wissenschaftlichen Input zu schaffen und sich ferner auf das Geschehen der restlichen Sitzungswoche organisatorisch wie auch inhaltlich vorzubereiten. Das heißt z. B. Zeit für Termine mit Fachleuten aus Wissenschaft und Forschung zu finden oder die Anliegen verschiedener Interessensvertreter wahrzunehmen, sich in Eckpunktepapiere einzulesen und Expertise für die anstehenden Sitzungen aufzubauen.
Des Öfteren tagen montags auch schon verschiedene Unterarbeitsgruppen, die vorbereitend für die dazugehörigen jeweiligen Ausschüsse tätig werden, um bestimmte Sachverhalte bereits im Vorhinein zu bearbeiten. Hierbei wird schnell ersichtlich, dass der Deutsche Bundestag tatsächlich ein Ausschussparlament ist, das dem Prinzip der Arbeitsteilung folgen muss, um effektiv und effizient arbeiten zu können. Klartext: In den 21 Ausschüssen werden vielfältigste Themen behandelt und zur Bewältigung der Themenflut teilweise Untergruppen gegründet, um das immense Arbeitspensum bewältigen zu können. So habe ich z.B. öfter dem Unterausschuss „Wissenschaftlicher Nachwuchs“ oder „Exzellenzinitiative“ des Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung beigewohnt und zahlreiche Diskussionen über die Zukunftsfähigkeit des Wissenschaftsstandorts Deutschland erlebt.
Die Diskussionen in der Arbeitsgruppe zum Thema „Sterbehilfe“ habe ich mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Gelinde gesagt war ich beim ersten Treffen baff, wie hochgradig juristisch einzelne Abgeordnete (und oft: Nicht-Juristen) sich in jedes Wort eines vorgeschlagenen Gesetzestextes einarbeiten. Man kann zurecht sagen, dass dies sicherlich die Aufgabe eines gewählten Volksvertreters ist und sein sollte. Die Inbrunst jedoch, mit der über vermeintliche Kleinigkeiten eines Gesetzesentwurf debattiert wird – und im Bereich Sterbehilfe interfraktionell, also über Parteigrenzen hinweg – hat mich nachhaltig beeindruckt.
Schließlich entstehen Positionspapiere, die dann dienstags in den AG-Sitzungen analysiert und wiederum diskutiert und verändert werden. Wichtiger Bestandteil der Sitzungswoche bildet dann die Fraktionssitzung am Dienstagnachmittag, zu der die Fraktionsebene im Reichstag zur Schaubühne von Politprominenz und eifrigen Journalisten wird, die ihren Informationsdurst am Ende der Sitzungen gestillt sehen wollen. Das ist – wenn auch Fraktionssitzungen ausschließlich zugänglich für Abgeordnete sind – grundsätzlich einen Blick wert, denn die gläserne Fraktionsebene wird vorher und nachher gewissermaßen zu einer Art aufgeregtem Ameisenhaufen.
Mit den Fraktionssitzungen ist dann der Weg geebnet für die Ausschusssitzungen, die mittwochs stattfinden. Hier sind Abgeordnete aller Fraktionen anwesend – und es kann durchaus schon mal hitzig her gehen. Höhepunkt meiner Anwesenheit im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ) war sicherlich der Besuch der Bundeskanzlerin. Ihr Besuch im AwZ und ihre Berichterstattung über den anstehenden G7-Gipfel auf Schloss Elmau stand stellvertretend für ihr Engagement im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Zudem blieben aktuelle Themen nicht ausgespart – sie berichtete über den Fortschritt bzw. die Stagnation der Weiterentwicklung der Europäischen Flüchtlingspolitik auf dem EU-Gipfel am 23. April unmittelbar nach der schrecklichen Tragödie auf dem Mittelmeer.
Wurde das Thema im Ausschuss auf abstrakter Ebene diskutiert, so spürte man an dieser Stelle trotzdem die eigentliche Idee des deutschen parlamentarischen Systems: Verankert in ihren Wahlkreisen haben die meisten Abgeordneten viele Flüchtlinge persönlich kennengelernt. Frau Lücking-Michel ist bei einem Besuch im Begegnungscafé in Dransdorf mit einigen Schicksalen in Kontakt gekommen und hat sich der Angelegenheiten angenommen, in denen sie eventuell hilfreich zur Seite stehen kann. Auch ihre Arbeit zur Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses versucht sie durch den direkten Kontakt zu verankern. So war die Rede zur Sicherung von gutem wissenschaftlichem Nachwuchs am 07. Mai im Plenum u. a. inspiriert von vielfältigen individuellen Diskussionen mit jungem, wissenschaftlichem Nachwuchspersonal und damit sehr realitätsnah. Den Prozess der Entstehung einer Plenarrede hautnah zu erleben und diese dann live und in Farbe von der Zuschauertribüne umgesetzt zu sehen, war ein besonderer Moment des sehr intensiven Praktikums im Bundestagsbüro von Frau Lücking-Michel.
Meinen Wissenszuwachs über die Funktionsweise des Hauses habe ich sowohl Frau Lücking-Michel selbst, aber auch der überaus angenehmen Arbeitsatmosphäre im Büro zu verdanken – keine Frage war zu viel, jede Antwort hilfreich. Ich hatte nie das Gefühl zu stören, aber immer das Gefühl, trotz meines anfänglichen Unwissens über den Betrieb, helfen zu können – wenn ich den roten Schal nicht ab und zu aus dem Blick verlor, denn in Sachen Tempo und Schrittweite muss ich wohl noch ordentlich aufholen.